- Deutsche Demokratische Republik: Neue Verfassung vom 6. April 1968
- Deutsche Demokratische Republik: Neue Verfassung vom 6. April 1968Die Versuche der Bundesregierungen Erhard und Kiesinger, die Beziehungen zu den kommunistischen Staaten an der DDR vorbei zu verbessern, veranlassten die DDR zu verstärkten Anstrengungen, die Eigenständigkeit ihres Staates unter Beweis zu stellen.Im Februar 1965 wurde der Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht in Ägypten bei einem Staatsbesuch mit allen Ehren eines Staatsoberhauptes empfangen, im Juni 1965 stattete der jugoslawische Staatschef Tito der DDR seinen ersten offiziellen Besuch ab. Diese Ereignisse trugen zusammen mit der inneren Konsolidierung durch die Wirtschaftsreformen (Neues Ökonomisches System) sehr dazu bei, das Selbstbewusstsein der DDR-Führung zu stärken und die Eigenständigkeit des zweiten deutschen Staates zu betonen.Während der DDR-Ministerratsvorsitzende Stoph 1967/68 über ein Abkommen mit der Bundesrepublik verhandelte, das die Anerkennung der DDR als gleichberechtigter deutscher Staat erreichen sollte, wurden zugleich durch das »Gesetz über die Staatsbürgerschaft der DDR« vom 20. Februar 1967 Fakten geschaffen und die Abgrenzung zur Bundesrepublik damit vorangetrieben. Im Juni 1968 verfügte die DDR-Regierung die Einführung des Pass- und Visumzwangs im Reiseverkehr zwischen der Bundesrepublik und West-Berlin einerseits und der DDR andererseits sowie im Transitverkehr zwischen der Bundesrepublik und West-Berlin; sie setzte einen Mindestumtausch von 10 DM pro Tag und Person beim Aufenthalt in der DDR und 5 DM beim Aufenthalt in Ost-Berlin fest.Am 6. April 1968 wurde eine neue »sozialistische Verfassung« der DDR in einem Volksentscheid angenommen und damit die erste Verfassung der DDR vom 7. Oktober 1949 (siehe auch Deutsche Demokratische Republik: Politisches System) abgelöst, die sich nach zwei Jahrzehnten politischer Entwicklung in weiten Teilen in einem grundlegenden Widerspruch zur politischen Realität befand. Die Wahlbeteiligung bei dem Volksentscheid, dem eine zwei Monate dauernde »Volksaussprache« vorausgegangen war, lag bei 98,05 % der Wahlberechtigten. Davon stimmten 94,49 % für die Verfassung. Bei diesem einzigen Volksentscheid in der Geschichte der DDR wurde ein Ergebnis verkündet, das hinter dem der Volkskammerwahlen deutlich zurückblieb. Auf diese Weise sollte vermutlich die Glaubwürdigkeit der Abstimmung, die von der SED als grundsätzliche Zustimmung zur sozialistischen Gesellschaftsordnung gedeutet wurde, unterstrichen werden.Die neue Verfassung markierte grundlegende Unterschiede zum Staatsverständnis der parlamentarischen Demokratie, indem sie den politischen Führungsanspruch der SED ausdrücklich festlegte. Im Unterschied zur ersten DDR-Verfassung waren in der neuen Verfassung wichtige Grundrechte entfallen: das Widerstandsrecht, das Verbot der Pressezensur, das Auswanderungsrecht, das Streikrecht, die wirtschaftliche Freiheit des einzelnen, das Recht auf Privateigentum am Boden, die Freiheit von Kunst, Wissenschaft und Lehre, das Recht auf freie Berufswahl. Dagegen wurde der Katalog der sozialen Grundrechte in der neuen Verfassung erheblich erweitert; dazu zählten vor allem das Recht auf Arbeit, auf Bildung, auf Freizeit und Erholung und das Recht auf Wohnraum. Im politischen System der DDR existierten zwar verschiedene Parteien und Massenorganisationen, die sich an unterschiedliche soziale Schichten und Gruppen wenden sollten, doch bestand ihre Aufgabe vornehmlich darin, für die Verwirklichung der von der SED vorgegebenen politischen Ziele zu werben. In der neuen DDR-Verfassung wurde Politik als »gemeinsames Handeln« verstanden. In diesem Rahmen galt politische Opposition als systemwidrige Erscheinung, die mit staatlichen Machtmitteln bekämpft wurde.Aufbau und Struktur der Staatsorganisation wurden in der neuen DDR-Verfassung umfassend und detailliert beschrieben. Die Volkskammer wurde als »das oberste staatliche Machtorgan« der DDR gekennzeichnet, das über die »Grundfragen der Staatspolitik« entscheidet (Art. 48). Sie setzte sich aus insgesamt 500 Abgeordneten zusammen. Seit 1950 auf der Grundlage einer Einheitsliste der in der Nationalen Front zusammengefassten Parteien und Massenorganisationen alle vier Jahre gewählt, bestand sie in der 60er Jahren aus neun Fraktionen. Neben der SED und den vier »Blockparteien« waren die Einheitsgewerkschaft FDGB, die »sozialistische Jugendorganisation« FDJ, der Demokratische Frauenbund und der Kulturbund vertreten. Obwohl die Volkskammer verfassungsrechtlich als höchstes staatliches Machtorgan bezeichnet wurde, war ihr politischer Einfluss minimal. Sie trat nur im Abstand von etwa zwei Monaten, meist zur Beratung und Verabschiedung von Gesetzen, für kurze Zeit zusammen und erwies sich durch eine fast ausnahmslos einstimmige Beschlussfassung als bloßes Zustimmungsorgan.Nach dem Tode des ersten Staatspräsidenten Wilhelm Pieck war 1960 der Staatsrat eingerichtet worden. Der Vorsitzende des Staatsrats hatte die Funktion eines Staatspräsidenten, doch nahm das Gremium auch innenpo-litische Aufgaben wahr. Erlasse und Beschlüsse des Staatsrats erlangten unmittelbar nach Verkündung Rechtskraft, außerdem legte er die Verfassung und die Gesetze verbindlich aus und führte die Aufsicht über die Tätigkeit des Obersten Gerichts der DDR. Der Ministerrat der DDR, die Staatsregierung, hat in der politischen Praxis vornehmlich die Funktion eines Wirtschaftskabinetts ausgeübt. Er setzte sich in der zweiten Hälfte der 60er-Jahre aus insgesamt etwa 40 Mitgliedern zusammen, von denen elf Personen einzelnen Industrieministerien vorstanden und 20 Ministerien mit Wirtschaftsproblemen im weiteren Sinne befasst waren.Vielfältige Verflechtungen von Partei- und Staatsämtern stellten sicher, dass die Staatsorgane die politischen Grundsatzentscheidungen der SED umsetzten. Während die Mitglieder der SED bereits durch ihr Parteistatut zur Beachtung und Durchsetzung der Parteidirektiven verpflichtet waren, galten die Parteibeschlüsse darüber hinaus für den Ministerrat und seine Mitglieder sowie für alle anderen Mitglieder des Staatsapparates aufgrund gesetzlicher Bestimmungen als bindende Anweisungen. Ein solches System des »demokratischen Zentralismus« ließ kaum Spielraum für gesellschaftliche Eigeninitiative, es sicherte vor allem die umfassende Kontrolle der Bevölkerung. Die doppelte Unterstellung aller staatlichen Institutionen unter die SED und die übergeordneten Staatsorgane behinderte nachdrücklich die Effektivität der Politik, die nur schwerfällig auf neue Probleme reagieren konnte.In ihrer neuen Verfassung bezeichnete sich die DDR als »sozialistischer Staat deutscher Nation« und hielt zunächst an der Perspektive einer künftigen Vereinigung Deutschlands auf sozialistischer Grundlage fest. Erst nach Abschluss des Grundlagenvertrages änderte sich diese deutschlandpolitische Position. Die DDR vertrat nun eine Politik der »Abgrenzung«, die aus dem Gegensatz zwischen der kapitalistischen und der sozialistischen Gesellschaftsordnung in beiden deutschen Staaten begründet wurde. Am 7. Oktober 1974 wurde die »sozialistische Verfassung« in verschiedenen Punkten geändert, dabei wurde die Bezeichnung »deutsche Nation« ebenso gestrichen, wie jeder Hinweis auf eine Vereinigung entfiel.
Universal-Lexikon. 2012.